Grüne Online-Abstimmungen und Online-Wahlen

1. Wir Grünen fordern seit Jahrzehnten generell eine umfassende Demokratisierung von Staat und Gesellschaft und besonders mehr direkte Demokratie. Trotzdem ist unsere eigene innerparteiliche Demokratie strukturell unterentwickelt:

a. auf Bundesebene können wir bis jetzt nur nach dem Urabstimmungs- bzw. Urwahl-Verfahren gemäß § 24 der Bundessatzung (siehe https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/satzung_des_bundesverbandes.pdf – dort S. 59/60.) direktdemokratisch entscheiden.
b. Dieses Verfahren ist sehr, sehr zeitaufwendig: von der erfolgreichen Einleitung einer Urabstimmungs-/Urwahlinitiative (die ihrerseits einige Vorlaufaktivitäten voraussetzt) bis zur Veröffentlichung des Ergebnisses können bis zu 21 Wochen (plus etwas Zeit für Reader-Erstellung, ggfs. plus Verschiebung vom Juli/August auf letzte Septemberwoche, plus 5 – 10 Tage für die Auszählung) vergehen; die Mindestfristen addieren sich (im günstigsten Fall) auf 14 Wochen (bei der neu eingeführten Urwahl: 7 Wochen).
Es ist also kein Wunder, dass diese Prozedur bis jetzt erst zweimal durchgeführt wurde (zuerst 1993 für die Vereinigung von Bündnis 90 und Die Grünen, dann noch einmal 2003, als für den BuVo (siehe https://www.gruene-partei.de/cms/files/dokbin/32/32314.reader_urabstimmung.pdf ) die Trennung von Amt und Mandat gelockert wurde).
c. Hinzu kommt noch, dass die frisch geänderte Urabstimmungsordnung (als Beschluß über https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Beschluesse_Laenderrat/Beschluesse_Laenderrat_Luebeck2012.zip zu bekommen; die Änderungen sind am besten auf https://www.gruene-partei.de/cms/default/dok/408/408204.aenderung_der_urabstimmungsordnung.htm nachzulesen) nach wie vor zwei empfindliche Einschränkungen enthält:

  • immer noch ist es Grünen unmöglich, basisdemokratisch über ihren eigenen (Bundes-) Haushalt abzustimmen,
  • es bleibt dem Ermessen des Bundesschiedsgerichts überlassen, wie weit es das Verbot von Suggestivfragen und von Eingriffen in die Autonomie der Landes- oder Kreisverbände und von Verstössen gegen das Parteiengesetz (siehe § 3 Urabstimmungsordnung) auslegen will.

d. Im übrigen wären die Druck- und Versandkosten für Papier-Briefe an alle Mitglieder und Papier-Reader “in ausreichender Anzahl” erheblich, würden wir nach diesem Verfahren mehrmals jährlich abstimmen. Nach wie vor sind wir eine Partei, in der das Geld knapp ist, so knapp, dass die BDK-Kosten von 200.000 – 300.000 Euro als gewichtiges Argument dafür vorgebracht werden, selbst zu einer so zentralen Frage wie dem Fiskalpakt keine Sonder-BDK abzuhalten.
 
2. Der Mitgliederentscheid zur Wahlprogramm-Schwerpunktbildung ist ein Lichtblick und fördert das Problembewusstsein:
Der BuVo hat vor kurzem ein Einsehen gehabt. Er will uns – immerhin – die besonders wichtige Schwerpunktsetzung für das Wahlprogramm 2013 (die erklärtermassen Prioritäten für Koalitionsverhandlungen und Regierungshandeln nach sich ziehen soll) direktdemokratisch entscheiden lassen. In seinem Schreiben “Grüne Schwerpunkte zur Bundestagswahl – Ihr entscheidet!” vom 25. Mai (müsstet Ihr eigentlich alle bekommen haben – wenn nicht: https://www.gruene-partei.de/cms/files/dokbin/411/411081.brief_an_die_partei_zum_mitgliederentsch.pdf )
versichert uns der BuVo, die Landesvorsitzenden hätten überall überwiegend mit “Begeisterung und Vorfreude” auf diesen Vorschlag reagiert.
Wirklich ist ja auch schon der Wunsch des BuVos, “dass zusätzlich wirklich jedes Mitglied mit seiner Stimme über die Ausrichtung des Wahlkampfes mitentscheiden kann“, recht erfreulich. Auch das vorgeschlagene Verfahren – simultane Mitgliederversammlungen aller Kreisverbände am 8./9. Juni 2013, jeweils mit Debatten über die Schwerpunktsetzung und anschliessender Abstimmung im “Wahllokal Kreisverband” – verheisst eine spannende politische Erfahrung für uns Grüne.
Diese Initiative ist also sehr zu begrüssen. Sie versucht, unser schwerwiegendes innerparteiliches Demokratiedefizit wenigstens an einer (potentiell) wichtigen Weichenstellung punktuell zu beheben.
Völlig ungewiss ist allerdings, was sich daraus für die Zukunft ergeben kann. Bleibt dieses Vorgehen ein singulärer Beteiligungsgipfelpunkt oder ob lässt es sich zu einer ständigen Praxis verstetigen?
Für eine dauerhafte Erweiterung grüner Handlungsmöglichkeiten auf diesem Wege müssten mindestens zwei Probleme gut gelöst werden:

  • der zeitliche Vorlauf: der BuVo hat für die “Premiere” volle 379 Tage “Vorwarnzeit” eingeräumt. Um jedoch zukünftig neue Abstimmungstermine bei akutem Bedarf innerhalb weniger Wochen ansetzen zu können, müssten bundesweit (annähernd) alle Kreisverbände ihre Jahresplanung flexibel genug handhaben, um kurzfristig das Thema regulärer Mitgliederversammlungen auszuwechseln oder aber zusätzliche Versammlungen zu solchen Zeiten einzuberufen, die sonst gremienfrei sind (bundesweit geht das vermutlich bloss an Sonntagen).
  • die “Möglichkeit zur Abstimmung” “für diejenigen, die nicht an der Debatte und Abstimmung vor Ort teilnehmen können:

Wenn uns dafür nichts besseres einfällt als Briefwahl, dann werden die Fristen für Wahlbenachrichtigung, Beantragung der Briefwahlunterlagen, deren Zusendung, deren Rücksendung und deren Auszählung nicht wesentlich kürzer sein können als bisher (vgl. 1b).
Ausserdem werden die Kosten für Druck und Versendung von Wahlbenachrichtigungen und Briefwahlunterlagen mit Reader nur dann wesentlich geringer sein können als bisher (vgl. 1d), wenn ein großer Teil der Mitglieder bereit ist, diese Unterlagen bloss digital zu empfangen bzw. selbst auszudrucken.
Der Mitgliederentscheid vom 8./9. 6. 2013 ist also eine gute Gelegenheit, den einzigartigen Wert direktdemokratischer Entscheidung erlebbar zu machen. Er bietet darüber hinaus Chancen, der gesamten Partei gute Verfahrensvorschläge mit Aussicht auf dauerhaften Erfolg nahe zu bringen.
Wir sollten diese Chancen wahrnehmen.
 
3. Für eine gut funktionierende direkte Demokratie in unserer Partei brauchen wir ein sehr viel schnelleres (und billigeres) Verfahren als den Schneckenpostweg. Es muss zuverlässig und leicht praktikabel sein.
 
4. Dies ist inzwischen auch möglich mit Online-Abstimmungen und Online-Wahlen:
a. die grosse Mehrzahl der bündnisgrünen Mitglieder hat inzwischen jahrelange Netz-Erfahrung und kann aus eigener Kraft online gehen. Diejenigen Grünen, die sich mit dem Internet immer noch schwer tun, werden immer weniger. Für diese relativ wenigen Mitglieder können ihre Orts- bzw. Kreisverbände Hilfestellungen organisieren: Texte ausdrucken und zustellen, notfalls auch vorlesen und ihnen die Stimmabgabe z.B. im Kreisbüro – und bei besonderem Bedarf mit Wahl-Assistent_innen – ermöglichen.
b. Online-Abstimmungen sind unter Grünen nichts völlig Neues mehr. Zum Beispiel haben die BAG Frieden/Internationales und die Berliner LAG Frieden/Internationales schon seit Jahren eine Reihe von Doodle-Abstimmungen durchgeführt, auch die BAG Energie hat mehrfach diese Möglichkeit genutzt.
Diese Software (näheres siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Doodle_%28Dienst%29 und https://www.doodle.com/ ) wird vermutlich noch nicht das Nonplusultra an Eleganz und Benutzungsfreundlichkeit sein – aber sie ist erwiesenermassen brauchbar.
Jedes zur Abstimmung eingeladene Mitglied kann teilnehmen: es trägt erst seinen Namen ein und gibt dann ihre/seine Stimme für Ja/Enthaltung/Nein oder aber für die Alternativen A, B, C, D, E usw. ab.
Jede_r Teilnehmende kann nachprüfen, dass

  • nur sie/er selbst ihren/seinen Namen verwendet hat
  • ihre/seine Stimmabgabe richtig gespeichert wurde,
  • ausschliesslich stimmberechtigte Mitglieder mit abgestimmt haben
  • das Endresultat rechnerisch richtig ist.

Das Verfahren bietet also zuverlässigen Schutz vor Abstimmungsverfälschungen. Es ist unkompliziert.
An offene Abstimmungen bei Sachfragen sind Grüne (zum Glück) gewöhnt.
c. Wollen wir ausserdem auch Online-Wahlen und Online-Personalentscheidungen möglich machen, dann allerdings kommen wir um geheime Stimmabgabe nicht herum. Das ist eine technisch erheblich anspruchsvollere Aufgabe.
Es gibt zwar auch dafür schon (mindestens) eine kostenlos nutzbare Software: https://dudle.inf.tu-dresden.de/privacy/ . Wir haben sie aber noch nicht selbst probiert und können nicht sagen, wie gut sie funktioniert und wie fälschungssicher die Ergebnisse sind. Hoffentlich wollen linke Grüne mit Spezialkenntnissen sich dieses Programm und/oder andere Programme einmal ansehen und uns dann eins zum Ausprobieren empfehlen.
Sollten wir gar keins finden können, das bei näherer Betrachtung gut genug arbeitet, dann sollte die Grüne Linke umgehend einen Entwicklungsauftrag vergeben.
– Für Online-Wahlen und Online-Personalentscheidungen brauchen wir eine (mindestens dreiköpfige) Wahlkommission, die das einwandfreie Funktionieren der Software kontrolliert.
d. Eine Abstimmungs- und Wahlordnung können wir relativ schnell erarbeiten:
Dabei sollten wir von dem ausgehen, was sich bei Grünen praktisch bewährt hat und vielen Grünen vertraut ist: die Bundessatzung (inklusive Frauenstatut, siehe https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/satzung_des_bundesverbandes.pdf ) und die BDK-Geschäftsordnung (siehe https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Geschaeftsordnungen/20120124_Geschaeftsordnung_BDK.pdf ), soweit ihre Bestimmungen für Online-Abstimmungen und Online–Wahlen relevant sind.
Daraus sollten wir eine vorläufige Abstimmungs- und Wahlordnung formulieren.
Sie sollte “so einfach wie möglich, aber nicht einfacher” (Einstein) sein: nur das sollte geregelt werden, was tatsächlich geregelt werden muss. Alle Regeln sollten klar und eindeutig formuliert werden. Ziel ist, sämtliche real möglichen Verfahrensstreitigkeiten im Konfliktfall schnell und überzeugend zu schlichten.
Etwaige Lücken, überflüssige oder suboptimale Regeln werden uns dann beim Gebrauch auffallen.
e. Wir selbst – das Basis-Netzwerk der Grünen Linken – werden Software und Regelwerk optimieren. Wir werden ihre Wechselwirkungen gründlich durchsprechen und alle erfolgversprechenden Verfahrensvarianten bei unserer eigenen Entscheidungsfindung ausprobieren, die Ergebnisse reflektieren und alles was sich bewährt, weiterverwenden und miteinander kombinieren.
Die Leistungsfähigkeit eines solchen Verfahrens wird auch an der Qualität der gemeinsam gefassten Beschlüsse gemessen werden: also sollten wir in den nächsten Monaten gut durchdachte Vorschläge, Anträge, Positionspapiere usw. zu wichtigen Themen erarbeiten.
Am Ende werden wir ein ausgereiftes, durchgetestetes Verfahren haben, das wir guten Gewissens der gesamten Partei vorschlagen können.
Viele weitere Grüne werden es gern anerkennen, wenn Linksgrüne diese bahnbrechende Pionier_innenarbeit für die ganze grüne Partei erfolgreich abschliessen.
 
Claudia Laux, KV Bernkastel-Wittlich, Karl-W. Koch, KV Vulkaneifel, Ralf Henze, KV Odenwald-Kraichgau, Simon Lissner, KV Limburg-Weilburg und Tobias Balke, KV Charlottenburg-Wilmersdorf
1. August 2012
 

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3 Kommentare

    • Tobias Balke auf 2. August 2012 bei 13:34
    • Antworten

    Hallo Peter,
    es ist sehr wohl möglich, dass jedes Mitglied nachprüfen kann, “ob die anderen Teilnehmenden einer Doodle-Abstimmung auch abstimmungsberechtigt waren”: das ist ganz einfach, wenn alle Stimmberechtigten eine aktuelle Liste der Stimmberechtigten online einsehen und dann mit der Menge der Teilnehmenden vergleichen können. Für unser Basis-Netzwerk sollten wir eine solche Liste führen und laufend aktualisieren. Für die gesamte Grüne Partei wäre es wohl am besten, wenn die Kreisverbände solche aktuellen Listen ihrer Mitglieder mitgliederöffentlich pflegen.
    Wie kommst Du zu der Behauptung, Doodle sei “natürlich” “hoch manipulationsanfällig”? Bei den BAGen Frieden/Internationales (plus Berliner LAG Frieden/Internationales) und BAG Energie haben sich bislang keine Verdachtsmomente ergeben. Wo genau siehst Du Fälschungsmöglichkeiten?
    bündnisgrüne Grüße,
    Tobias

  1. deshalb stellen wir es ja zur Diskussion, Peter, und wir haben bis hin zur Entwicklung einer Open-Source-Software gedacht, insofern auch Doodle nur mit Fragezeichen erwähnt.

  2. Alles bedenkenswert. Aber Doodle seht Ihr deutlich zu optimistisch, finde ich. Natürlich ist Doodle hoch manipulationsanfällig, und natürlich kann nicht jedes Mitglied nachprüfen, ob die anderen Teilnehmenden einer Doodle-Abstimmung auch abstimmungsberechtigt waren. Das geht in die richtige Richtung, aber technisch muss da m.E. noch viel passieren.

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