Christian Stöbele: Position zum Krieg in Afghanistan,

… zum Aufbau und zu der „neuen Strategie” von NATO und Bundesregierung

Schlechte Sicherheitslage

Der Krieg in Afghanistan dauert inzwischen mehr als 8 Jahre. Die Sicherheitslage wird auch im Norden, wo die Bundeswehr die Verantwortung trägt, von Jahr zu Jahr schlechter, obwohl die Stärke der deutschen ISAF-Truppe inzwischen mehr als verzehnfacht wurde. Die ausländischen Soldaten können den Schutz der Zivilbe-völkerung immer weniger gewährleisten. Sie sind überwiegend damit beschäftigt, sich selbst zu schützen. Die Soldaten der Bundeswehr dürfen die Betonfestungen fast nur noch schwer bewaffnet und in Konvois in Panzerfahrzeugen verlassen. Normaler Kontakt zur Bevölkerung ist kaum möglich. Ein besonderes ISAF-Mandat, das die Anwendung militärischer Gewalt stark einschränkte, gibt es faktisch nicht mehr. OEF-Mandat und ISAF-Mandat sind in der Praxis identisch. Derselbe General ist der Kommandeur für beide Mandate. Ohne Rücksicht auf das jeweilige Mandat werden die Soldaten eingesetzt, auch die der Bundeswehr. Folglich war auch die offensive Bombardierung von zwei Tanklastwagen und einer Menschenmenge am 4.9.2009 ein Einsatz von deutschen Soldaten mit ISAF-Mandat.

Erfolge

Es gibt Verbesserungen etwa im Bereich des zivilen Aufbaus durch den Bau von Straßen, Wasserkraftwerken, Brunnen und Schulen. So hat die Millionenstadt Kabul jetzt wieder nahezu durchgehend elektrische Stromversorgung und in weiten Teilen Wasserversorgung. Die medizinische Versorgung ist besser. Viel mehr Kinder und vor allem auch Mädchen besuchen die Schule. Gleiche Rechte für Frauen sind von der Verfassung anerkannt. In den Städten gibt es viele Beispiele für eine Praxis der Gleichstellung. Dies wird von der Bevölkerung auch begrüßt.

Afghanische Kritik

Aber die Bevölkerung kritisiert auch viele konkrete Versäumnisse, etwa

  • dass in Kabul der Bau einer Abwasserkanalisation nicht einmal begonnen und eine wichtige Brücke nahe Kunduz bis heute nicht gebaut wurde. dass Schulunterricht häufig ausfällt, weil LehrerInnen nicht bezahlt werden; zudem fehlt es an gutausgebildeten LehrerInnen sowie an einer grundlegenden Ausstattung der Schulen (Bücher, Tafeln, Stifte und Papier);dass die großen Summen an internationalen Hilfsgeldern bei grossen Teilen der Bevölkerung kaum ankommen;
  • dass die zentralistische öffentliche Verwaltung ohne Schmiergelder meist nicht funktioniert; Korruption und fehlende Transparenz haben die Schwäche der staatlichen Strukturen weiter verschärft;
  • dass korrupte Politiker weiter im Parlament sitzen, Minister und Gouverneure sind häufig dringend verdächtig der Beteiligung an Kriegsverbrechen;
  • dass die Regierung Karzai über Re-Integration und Versöhnung mit diversen „Aufständischen” verhandelt ohne das Parlament (Loya Jirga) zu informieren, geschweige denn mit einzubeziehen;
  • Eine umfassende Evaluierung über die Wirksamkeit und den Verbleib von Hilfsgeldern aus Deutschland fehlt bisher.

Mangelhafter Polizeiaufbau

Der Aufbau einer zivilen Polizei ist unzureichend. Es fehlt an Ausbildern aus Europa und Deutschland und an einem geeigneten Konzept. Angesichts der Zahl von 70 % Analphabeten bei den Polizeibewerbern und des Fehlens anderer Vorbildung reichen acht Wochen Ausbildungszeit nicht aus. Vor allem ist der Einsatz von Polizisten nach der Ausbildung häufig völlig ungenügend ausgestaltet. Viele Polizisten werden in Provinzen fern ihrer Familien im Süden oder Osten eingesetzt, sie werden häufig nicht ausreichend bezahlt und müssen von den monatlichen Einkommen aus Gehalt und illegalen Einnahmen meist einen Anteil an Vorgesetzte abführen. So liegt der „Schwund” bei bis zu 30 Prozent. Ausgebildete Polizisten, wechseln zu privaten Sicherheitsfirmen, zu Aufständischen, auch zu Taliban, wo sie mehr verdienen.

Die neuen Abzugs- und Verhandlungsüberlegungen

Inzwischen überbieten sich NATO, Bundesregierung, Union, SPD und FDP mit Forderungen, ein „Weiter so” dürfe es nicht geben, wie Die Grünen s in den vergangenen Jahren immer wieder formuliert hatten Sie reden von „Exit”
und vom Abzug der internationalen Truppen und der Bundeswehr. Sie kündigen Exit-Pläne und Abzugsperspektiven an. Ganz „Mutige” nennen sogar konkrete Abzugszeiträume.
Und sie sprechen sich aus für Verhandlungen mit allen Aufständischen, auch mit Hekmatyar und den Talibanführern, sogar mit Mullah Omar. Vor zwei Jahren waren „Exit” und „Abzug” noch Tabuworte und der damalige SPD-Chef Kurt Beck musste für seine Forderungen nach der Aufnahme von Verhandlungen noch mächtig Prügel einstecken, auch von vielen Genossen, die heute so tun, als hätten sie immer schon das Richtige gewollt.
Die Bundesregierung will angeblich Verhandlungen unterstützen und das sogar mit 50 Millionen Euro einen Fonds, aus dem Taliban-Aussteiger bezahlt werden, um die Verhandlungsbereitschaft zu fördern.
Die neuen Überlegungen gehen grundsätzlich in die richtige Richtung. Sie sind aber nicht das Ergebnis besserer und geläuterter Einsicht, sondern die Umsetzung der Vorgaben des neuen US-Präsidenten. Etwas mehr frühe Einsicht und Mut hätten schon lange zu einer Beendigung des Krieges beitragen können.

Neue Strategie unglaubwürdig

Teile der „neuen Strategie” übernehmen Forderungen der Grünen seit dem Göttinger Sonderparteitag von 2007. Trotzdem ist eine Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung nicht richtig.
Die größte Truppenerhöhung des Afghanistankrieges und die Verschärfung der verhängnisvollen Offensivstrategie mit Bombardierungen zur Vernichtung der Aufständischen begründen Zweifel daran, ob Verhandlungen und die verkündete Exit-Strategie ernsthaft gewollt sind und Erfolg haben können. Erfolgen steht entgegen, dass parallel zu Überlegungen über Verhandlungen und Abzug unversöhnlich und noch intensiver als bisher unter Einsatz aller militärischen Mitteln trotz weiterer ziviler Opfer versucht wird, dieAufständischen auszuschalten, lebendig oder tot – egal ob mit OEF- oder ISAF-Mandat. Ein neues Mandat, das die offensive Militärstrategie nicht ändert und für die Zukunft nicht ausschließt, sondern den Krieg gar eskaliert, kann man nur ablehnen.

Offensiver NATO-Krieg steht gegen Verhandlungen

Das Neue der Strategie ist unglaubwürdig, denn die verhängnisvolle Offensivstrategie unter Einsatz von Flugzeugen bzw. Drohnen mit Bomben und Raketen wird uneingeschränkt fortgesetzt und soll intensiviert werden.
Forderungen nach und Bekenntnisse zu Verhandlungen und die Schaffung von Ausstiegsprogrammen werden begleitet von einer massiven Aufstockung der Truppenstärke der Bundeswehr um fast 20 Prozent. Die US-Truppenstärke wird sogar um mehr als 35 Prozent erhöht.
Die Behauptung, die Aufstockung der Truppenstärke diene nur der Beruhigung der der Lage in allen Landesteilen, trifft nicht zu. Das ergibt sich aus den Aussagen der militärischen Führung, aber vor allem aus der Praxis der Kriegsführung der letzten Monate. Damit wird der Krieg verschärft, anstatt ihn einzuschränken oder zumindest für einige Zeit auszusetzen, um den Verhandlungen eine Chance zu geben. Mehr Soldaten und mehr Militärgerät heißt deshalb konkret mehr Krieg, mehr getötete und verletzte Menschen, mehr Zerstörungen und mehr Hass. Jedes weitere Jahr werden tausende Menschen in diesem Krieg getötet und verletzt.
Gerade auch im Norden, also im Verantwortungsbereich der Bundeswehr, werden US-Kampftruppen in einer Stärke eingesetzt werden, die erheblich größer ist als die der Bundeswehrsoldaten (ca. 5.000). Mit den zusätzlichen US-Soldaten wird die US-Einsatzstrategie des „Counter Insurgency” einschließlich gezielter Tötungen in allen Provinzen die militärischen Operationen dominieren. Damit wird eine andere „deutsche Strategie” konterkariert – es ist zu befürchten, dass es 2010 mehr tote deutsche Soldaten geben wird.
Das angekündigte Verhandlungsangebot ist absolut unglaubwürdig: einerseits über eine Beendigung des Krieges zu reden auch unter Einbeziehung der Taliban-Anführer, und andererseits gleichzeitig dieselben Taliban-Anführer, also die gewünschten Verhandlungspartner, mit allen militärischen Mitteln einer Weltmacht zu jagen, passt einfach nicht zusammen.
General Mc Christal hat in einem Interview erklärt, Mullah Omar müsse sich vor Gericht verantworten oder getötet werden. Die übrigen Talibanführer sollen aus dem Verkehr gezogen oder getötet werden.
Das angebliche Verhandlungsangebot der neuen Strategie wird durch die drastische Erhöhung des Militärs, die militärischen Drohungen und die Praxis der Militäreinsätze konterkariert. Jeglichen Beteuerungen über Verhandlungsbereitschaft wird zugleich die Grundlage entzogen.
Derselbe General hatte in seiner taktischen Direktive vom Juli letzten Jahres gefordert, „die Kommandeure müssten abwägen den Gewinn von „Close Air Supports” (CAS; also Luftschlägen) gegen die Kosten der zivilen Opfer”.
Auch zeigt die ständige Praxis der US-Einsätze, dass die Offensivstrategie zur Aufstandsbekämpfung uneingeschränkt weitergeht und zwar in ganz Afghanistan und auch mit zivilen Opfern.
Anfang November 2001, also drei Monate nach Erlass der neuen Direktive, wurde im deutschen Verantwortungsbereich in Sichtweite der deutschen Soldaten nahe Kunduz fünf Tage lang von afghanischen Kräften und US-Einheiten ein Gebiet mit mehreren Dörfern abgeriegelt und aus der Luft bombardiert. Als stolzes Ergebnis wurde verkündet: 133 getötete angebliche Aufständische.
Seit dem 12. Februar 2010 gibt es die Großoffensive in Helmand, bei der gleich am zweiten Tag zwölf Zivilisten in ihren Häusern von US-Raketen getötet wurden. 29 Aufständische sind ebenfalls umgekommen. Zwei Tage später sterben wieder fünf Zivilisten.

Deutsche Kriegsführung

Deutsche Soldaten beteiligten sich an der tödlichen Jagd auf Aufständische nicht nur am 4. September 2009. Auf deutschen Befehl wurden nahe Kunduz US-Bomben auf Tanklastwagen mit dem erklärten Ziel der Vernichtung von Menschen geworfen. Sehenden Auges wurden über einhundert Menschen getötet, darunter viele Zivilpersonen und Kinder.
Es war ein Einsatz, der vom ursprünglichen ISAF-Mandat nicht gedeckt ist. Die gezielte Vernichtung von Menschen, selbst dann wenn sie für Aufständische gehalten werden, sieht das Mandat des Bundestages nicht vor. Für ein solches Mandat hätte es in den letzten Jahren keine Mehrheit gegeben. Das ISAF-Mandat berechtigt zum Einsatz von militärischer Gewalt nur in Notsituationen zur Nothilfe oder Notwehr.
Die Bundesregierung weigert sich aber bis heute, verbindlich zu erklären, dass auch sie diesen Einsatz und überhaupt Einsätze mit dem Ziel der Vernichtung von Menschen ohne Notsituation vom Mandat als nicht gedeckt ansieht. Sie stellt gegenüber der Truppe nichts klar.
Weitere solche Einsätze will die Bundesregierung also offensichtlich nicht ausschließen. Weiter werden Bundesregierung und viele Abgeordnete sich auf das ISAF-Mandat stützen.
Die ursprüngliche Einschränkung der Befugnis zur Anwendung militärischer Gewalt im ISAF-Mandat gibt es nicht mehr.. OEF-Mandat und das ISAF-Mandat werden beide genutzt zur offensiven Aufstandsbekämpfung mit all den verhängnisvollen Folgen.
Außerdem wissen wir seit dem 4. September 2009 von der Existenz der geheimen Sondereinheit der Bundeswehr TF 47 (Talk Force 47). Was diese tatsächlich treibt, ist unklar. Es heißt, sie solle sich um Zielpersonen kümmern. Die Bundesregierung gibt zum konkreten WIE bisher nicht viel Auskunft. Immerhin räumt sie inzwischen ein,, dass ein Soldat der Sondereinheit an weiteren Einsätzen beteiligt war, bei denen CAS (US-Bombenflugzeuge) von deutscher Seite angefordert wurden. Zumindest in einem weiteren Fall vom Juli 2009 mit dem Ergebnis, dass fünf Menschen getötet wurden. TF 47 ist offensichtlich Teil der offensiven Ausschaltung von Aufständischen, tot oder lebendig.
Ohne den von den Grünen auf dem letzten Parteitag im Oktober 2009 geforderten „Schluss mit kontraproduktiven Militäraktionen” kann es Deeskalation und aussichtsreiche Verhandlungen nicht geben. Die Beendigung des Krieges wird so leider nicht gefördert.
Einem Mandat, das den Krieg verschärft, Verhandlungen erschwert oder gar unmöglich macht und einer Abzugsperspektive entgegensteht, kann nicht zugestimmt werden.

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