23.07.2001

Hinweise zur Diskussion um die Ursachen der Leukämiefälle in der Umgebung von KKW-Krümmel und GKSS aus den Stasi-Unterlagen.

Bombe oder Kraftwerk ?
Stasi war beunruhigt über Arbeiten mit Kernbrennstoffkügelchen in der BRD

Es ist unstrittig, daß die Nutzung der Kernenergie rein militärische Wurzeln hatte. Die sogenannte "friedliche" Nutzung der Kernenergie hatte zunächst lediglich das Ziel, die fatalen Bilder von Hiroshima und Nagasaki vergessen zu machen. Bis in die Gegenwart überlappen sich die beiden Seiten der Kernenergienutzung in den Atomstaaten, deren Aufsichtsbehörden, Ministerien, Forschungsinstituten, Forscherhirnen. Das gilt auch bezüglich der Desinformation, Gefährdung und Schädigung der Bevölkerung.
Gegenwärtig spielen diese Kernbrennstoffkügelchen, die bei NUKEM (Hanau) großtechnisch hergestellt wurden, eine Rolle bei der Analyse möglicher Ursachen der weltweit größten Häufung von Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Elbmarsch - in unmittelbarer Nähe zum Kernkraftwerk Krümmel und zum Kernforschungszentrum in Geeshacht (GKSS).

Eigene Recherchen in der Bundesbehörde für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes haben ergeben, das das MfS sich sehr für die Grauzone zwischen Bomben und Kraftwerken interessiert hat. So gab es in Zusammenhang mit Überlegungen zum Einsatz von Kernwaffen für terroristische Zwecke aus "zuverlässigen Quellen der Abteilung 5 der Hauptabteilung XVIII" eine "Einschätzung des gegenwärtigen Entwicklungstandes". Die Studie stammt aus dem Jahre 1987 und ist überschrieben mit "Kleinkernladungen (Mininukes)". Sie beginnt jedoch nicht mit militärischen Überlegungen sondern interessanterweise mit dem Hinweis auf die Kernfusion als möglicher Lösung der Weltenergieprobleme. Eines der technischen Probleme besteht in der Beladung von Fusionsreaktoren mit den Materialien, die für die Fusion erforderlich sind. "Eine Lösungsmöglichkeit könnte das Einschießen von kleinen bis kleinste Fusions-Fissions-Kügelchen in den Reaktor darstellen". Das MfS bemerkt: "Interessanterweise sind in der letzten Zeit die erfolgversprechendsten Fusionskonzepte in einer ganz anderen Richtung angelegt worden. Es liegt der Schluß nahe, daß bei der Konzeption der Fusons-Fissions-Kügelchen eine andere Anwendungsrichtung wesentlich interessanter ist, als es nach dem Titel der Veröffentlichungen erscheint. Dieser Schluß wird auch durch die Zielrichtung der US-amerikanischen Atompolitik unterstützt. Dort wird zum Ausdruck gebracht, daß das Streben der Kernwaffenforschung eindeutig zu kleineren und leichteren Kernladungen mit geringeren Leistungen (Größenordnung von annähernd 10 GJ) geht, weniger um die Strahlungsleistung. Vergegenwärtigt man sich die Leistungsfähigkeit der Fusions-Fissions-Kügelchen ..., so ergeben sich erstaunliche Werte." Das MfS nennt Abmessungen der Kügelchen im Millimeter- bis Zentimeter-Bereich und Sprengstärken von einigen hundert bis zu einigen tausend Kilogramm TNT-Äquivalent.
Physikalisch funktioniert das Ganze etwa so, daß die Kügelchen zunächst zu einer Implosion gebracht werden (dazu gibt es verschiedene Tricks: Druckwellen aus konventionellen Explosionen, Laserstrahlen u.a.). Dabei entsteht ein sehr hoher Druck, der die Dichte einer winzigen Menge spaltbaren Materials im Innern des Kügelchens so stark erhöht, daß es zu einer Kernspaltung (Fission) kommt. Dabei entstehen so hoher Druck und Temperatur, daß es zu einer Fusionsreaktion (Deuterium-Tritium) kommt, die das eigentliche Ziel des Unternehmens ist.
An Materialien kommen vor: Uranoxid, Urancarbid, Uransilizid, Uran-, Plutonium- Americium-, Curium-, Californium-Isotope, Deuterium und Tritium.
Wesentlich ist, daß man auf diesem Wege zu interessanten Sprengwirkungen mit Spaltmaterialien weit unterhalb der bekannten kritischen Massen kommen kann. Man bekommt Miniatombomben, die bequem in einem Kugelschreiber untergebracht werden können. Das MfS beschreibt die möglichen Einsatzbereiche:
1. Ersatz konventioneller Munition durch wesentlich kleinere und leichtere Geschosse mit besserer Zielgenauigkeit, Flächenbombardements möglich;
2. Submunition, intelligente Munition;
3. Taktische Kernwaffen in Flugzeugen und U-Booten, in denen bisher die Anzahl der mitgeführten Kernwaffen durch deren hohes Gewicht stark begrenzt war;
4. SDI: Platzierung der Sprengladungen lange vor dem Einsatzfall, Zündung aus dem Weltraum durch Laser geringer Leistung oder Verwendung als Geschosse in elektromagnetischen Kanonen im Weltraum zur Zerstörung von Interkontinentalraketen und Satelliten. Vorstellbar wäre auch der Einsatz der Kügelchen als Energiequelle für Röntgenlaser.
5. Diversion und Sabotage: leicht transportierbare kleine Sprengsätze, leicht abschirmbare a-Strahler (Americium, Curium, Californium) als Spaltmateriale, schlechte Nachweisbarkeit der Sprengung in einem Kernkraftwerk, weil danach sowieso alles verstrahlt ist. "Damit werden insbesondere Anlagen des Gegeners, die eine Schlüsselposition für das Funktionieren seiner Wirtschaft - die Energieversorgung bzw. deren Zentren die Kernkraftwerke - einnehmen, als potentielles Einsatzfeld für FFK von vorrangigem Interesse sein."

Das MfS befürchtet, daß Terroristen sich solche Miniatombomben beschaffen könnten, es weist daraufhin, daß bereits die Herstellung geringer Mengen spaltbaren Materials mit geringer kritischer Masse beachtet werden muß. Das MfS ist beunruhigt, daß die besonders geeigneten Isotope Americium 243, Curium 245 und Californium 249 schwer aufzuspüren sind, weil sie so leicht abgeschirmt werden können (a!). Die Miniatombomben können auch viele Jahre irgendwo versteckt liegen, ohne ihre Funktionstüchtigkeit zu verlieren. Denkt man an die Aufgaben der "Arbeitsgruppe des Ministers/Sonderfragen" (AGM/S) des MfS, die mit Eliteeinzelkämpfern im "Operationsgebiet", d.h. in der BRD agierte und an die Listen mit bedeutenden Zielobjekten in der BRD, unter denen 8 Kernkraftwerke und andere kerntechnische Anlagen waren, so liegt nahe, daß das Interesse des MfS an den Mininukes nicht rein platonischer Art war. Daß es über die AGM/S kaum Unterlagen und auch keine Belege dafür gibt, daß das MfS selbst über Mininukes verfügte, läßt keinerlei Schlußfolgerungen zu.

In der Literaturrecherche des MfS wird auf die Zeitschrift Atomkernenergie-Kerntechnik hingewiesen, in der allein zwischen 1982 und 1985 10 Veröffentlichungen mit durchschnittlich 10 Literaturhinweisen zu dieser Thematik zu finden sind. (Sieht man die übrigen Jahrgänge auch durch, findet man eine lange Liste entsprechender Arbeiten). Von den Autoren wird Prof. Friedwardt Winterberg genannt, der in Reno (Nevada, USA) arbeitet. Winterberg hat zuvor in der Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffahrte und Industrie in Hamburg und am Forschungsreaktor in Geesthacht (GKSS) gearbeitet und die Zusammenarbeit mit der GKSS auch später fortgeführt. Er verfügt über mehrere diesbezügliche Patente und hat sich zweifelsfrei intensiv mit den militärisch nutzbaren Aspekten des Themas befaßt. Es wird auch Prof. Walter Seifritz erwähnt, der im Eidgenössischen Institut für Reaktorphysik in Würenlingen (Schweiz) an diesem Thema arbeitet. Interessanterweise ist auch ein Autor aus Saudi-Arabien unter den Personen, die das Interesse des MfS erregt haben (Sümer Sahin). Das MfS hat 5 deutsche, ein europäisches und ein US-Patent zum Thema gefunden.
In der Zeitschrift Atomkernenergie fallen mehrere Arbeiten von K-D. Leuthäuser aus dem Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalyse (INT) bei Kiel auf, die sich mit den "Kügelchen" befassen, vom MfS aber übersehen wurden.
Sowohl die Zeitschrift Atomkernenergie als auch das INT und die GKSS wurden wesentlich von Prof. Bagge mitbegründet. Er gehörte zu den deutschen Physikern, die es glücklicherweise nicht geschafft hatten, für Adolf Hitler die Atombombe zu bauen. Anders als etliche seiner berühmten Kollegen wie Max Born, Otto Hahn, Walter Gerlach, Werner Heisenberg, Max von Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Fritz Strassmann und Karl Wirz hat Bagge jedoch die von Carl Friedrich von Weizsäcker initiierte Göttinger Erklärung vom 12. April 1957 nicht unterzeichnet. Dieser bemerkenswerte Text begann so: "Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge." Die Unterzeichner erklären, es wäre "keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen."

Sebastian Pflugbeil

Literatur
1. Generalmajor Kleine an Generalleutnant Geisler, Brief vom 18.2.1987; BStU MfS-AGM Bd. 1001, Bl. 59.
2. Kleinkernladungen (Mininukes), BStU MfS-AGM Bd. 1001, Bl. 60-70.
3. Auerbach, Thomas: Einsatzkommandos an der unsichtbaren Front, Terror- und Sabotagevorbereitungen des MfS gegen die Bundesrepublik Deutschland, Ch. Links-Verlag, Berlin, 1999
4. Atomkernenergie bzw. Atomkernenergie-Kerntechnik, 1956 - 1983

Gesellschaft für Strahlenschutz e.V.
Dr. Sebastian Pflugbeil
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