11./12. 12.2001

Hartwig Berger
Artikel in der taz vom 14.11.2001

Im Mehltau des Atomkonsens
Ein Gesetz macht noch keinen Ausstieg

Wenn der Bundestag noch zur Adventszeit 2001 das Atomgesetz beschließt, wird der Grüne Umweltminister das als seinen größten politischen Erfolg verbuchen. Er wird sich da auf das Ziel des Gesetzes berufen, "die gewerbliche Nutzung der Kernenergie geordnet zu beenden" (§1, Nr.1 des AtG), Das Ende der Atomwirtschaft ist in Deutschland eingeleitet, in den 19 betriebenen Reaktoren werden Zug um Zug die Lichter ausgehen. In durchschnittlich 16 Jahren Laufzeit, bei ständiger Volllast gar nur 13 Jahre lang, können Kraftwerke dann noch hochradioaktive Abfälle unter der Gefahr nicht auszuschließender nuklearer Katastrophen produzieren. Ein schönes Weihnachtsgeschenk aus Grüner Regierungsverantwortung?

Die Anti-Atombewegung, in der die Partei des Umweltministers ihre Wurzeln hat, wird allerdings den Wein der Euphorie durch Wermut verbittern. Sie kann sich mit demselben Recht auf das novellierte Atomgesetz berufen, das Ziel nämlich, "bis zum Zeitpunkt der Beendigung den geordneten Betrieb sicherzustellen" Rot/Grün hat nicht den Ausstieg aus der Atomkraftnutzung beschlossen, sondern ihre Bestandssicherung für eine relativ lange Frist, die durch einfache Gesetzesänderung jederzeit verlängert werden kann. Der Rechtsanspruch auf standortnahe und zeitlich nicht befristete Zwischenlager hilft der Nuklearindustrie aus einem sonst unvermeidlichen Entsorgungsnotstand; eine Verschärfung der Sicherheitstechnik wird kaum mehr möglich sein, wenn der "hohe internationale Standard" und die Fortgeltung der bisherigen "Sicherheitsphilosophie" gesetzlich verankert worden sind.

Rot/Grün hat sogar darauf verzichtet, eine dynamische Schadensvorsorge einzuführen, die die Betreiber zum entschädigungsfreien Einbau neu entwickelter Sicherheitstechniken verpflichtet. Was für jede Chemiefabrik angeordnet werden kann, gilt weiterhin nicht für die viel riskanteren Atomkraftwerke. Die katastrophale Verwundbarkeit dieser Anlagen, die nach dem 11. September öffentlich bewusst wurde, kann somit auch nicht zu sofortigen Stillegungen führen. Die Betreiber können da mit besten Erfolgssichten klagen und hohe Entschädigungen für entgangene Gewinne durchsetzen.

Welche Einschätzung ist zutreffend? Der Streit darüber wird. nach Verabschiedung des Atomgesetzes müßig, weil er nichts mehr ändert. Ein besseres Gesetz wird es angesichts der schwächelnden Grünen in absehbarer Zeit nicht geben. Eine ehrliche Bilanz ist auch nicht zu erwarten. Die Spitze der Bündnisgrünen wird im Wahljahr Gesetz und Atomkonsens als bahnbrechenden Erfolg darstellen wollen - auch wenn große Teile der eigenen Mitgliedschaft das mit Gründen anders sehen. Die Umweltverbände hingegen müssen entscheiden, ob sie die Grünen trotz ihrer Atompolitik kritisch unterstützen oder sie ins Nichts der gerissenen 5%-Hürde stürzen lassen. Die Wahl des kleineren Übels zu empfehlen, hat schon in der Bundesrepublik der 70er Jahre nicht sonderlich überzeugt.

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Statt sich in rechthaberische Diskussionen zu verstricken, sollte jetzt über eine Anti-Atompolitik nach Verabschiedung des Gesetzes geredet werden. Hier ist es dann allerdings erforderlich, eine strategische Fehlentscheidung der Grünen Spitze zu korrigieren, die bereits im Koalitionsvertrag mit der SPD angelegt war. Ich meine das Eingehen auf Schröders Verlangen, die wichtige Entscheidung über ein Ende der Kernkraftnutzung nur im Konsens mit der sie betreibenden Wirtschaft zu treffen. Diese Konsensstrategie hatte der verstorbene VEBA-Chef v. Bennigsen-Foerder 1989 in die Welt gesetzt, sie war vom niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder Anfang der 90er Jahre aufgegriffen worden und hatte damals zu ersten Verhandlungen über die Zukunft der Atomkraft geführt. An diesen Gesprächen waren jedoch, im Unterschied zur rot/grünen Regierungszeit, sowohl Umweltverbände wie die damals oppositionellen Grünen (über den hessischen Umweltminister Joschka Fischer) beteiligt. Die Gegner der Atomkraft konnten also prinzipiell mitmischen und das Ergebnis war dann, nicht überraschend, ein Scheitern der Konsensbemühungen.

In der Neuauflage der Konsensstrategie, wie sie 1998 vereinbart wurde, findet sich diese Pluralität nicht mehr. Die Bundesregierungen verhandelte nur noch mit den vier großen Stromkonzernen EON, RWE, EnBW und HEW, zudem tat sie das hinter streng verschlossenen Türen. Sie beging zudem den kapitalen Fehler, mit der ausgehandelten Vereinbarung nicht zugleich einen Entwurf zur Novellierung des Atomgesetzes vorzulegen. Dadurch wurde dieses Gesetz ein Jahr lang verschleppt, außerdem nahmen die Atomkonzerne auf die Novelle bis in die kleinsten Details Einfluß. Das war demokratiepolitisch mehr als fragwürdig, zumal. andere gesellschaftliche Gruppen, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung vertreten, völlig ausgeschlossen blieben und das Gesetzeswerk erst nach Fertigstellung zu Gesicht bekamen. Die Umweltverbände wurden nachträglich in einem entwürdigenden Scheinverfahren angehört, da ernsthafte Änderungen der Novelle den Konsens mit der Atomindustrie gefährdet hätten. Am 5.November durften dann Greenpeace und NABU ihre Kritik dem Umweltausschuss des Bundestags vortragen - im Gesetz findet sich von ihren Anregungen nichts wieder. Die Novelle des Bundeskabinetts hat das Parlament ohne Änderung nur eines Jota passiert. Peter Strucks bekanntes Diktum - "kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es hineingeht" wurde ausgerechnet am gesellschaftspolitischen Streitfall "Atomkraft" widerlegt.

Das Erfolgs-Gesetz des Jürgen Trittin, findet also den Segen einer Atomwirtschaft, deren baldige Abschaffung es einleiten soll. Grenzt schon das an dialektischen Genickbruch, ist der strategische Fehler, der mit dem Ausschluss der übrigen Gesellschaft begangen wurde, undialektisch eindeutig. 30 Jahre Atomkonflikte nicht nur in Deutschland haben klargemacht, dass die Wirtschaftsinteressen der betreibenden Konzerne und Sicherheitsbelange der Bevölkerung wie Umweltverantwortung diametral auseinanderfallen. Es war und ist der Skandal der Atomindustrie, dass sie Menschen und ganze Länder zu Geiseln nicht auszuschließender Katastrophen macht und unermessliche Umweltgefahren zukünftigen Generationen aufbürdet. Eben deshalb hatte sich die Anti-Atombewegung der 70er und 80er Jahre als Fundamentalopposition entwickelt, die mit einem Industriezweig den Atomstaat und ein strukturell verantwortungsloses Wirtschaftshandeln insgesamt herausforderte. Fundamentalopposition ist vielleicht nicht mehr zeitgemäß, wer aber heute Atompolitik im Einklang mit den Profiteuren dieser Technologie betreibt, geht mit seinem Anpassungswillen entschieden zu weit.

Den Atomkonzernen bietet die Konsensstrategie zunächst nur Vorteile. Sie können auf eine schnelle Genehmigung der Zwischenlager setzen und vermeiden damit spätestens ab 2005 anfällige und konfliktträchtige Transporte. Eine Neubewertung der Restrisiken nach dem 11. Septembers müssen sie nicht fürchten: Atomkraftwerke können weiterlaufen, obwohl sie vor Anschlägen nicht wirksam zu schützen sind. Vor allem aber hat der Einigungszwang dem Grünen Umweltminister seine sicherheitspolitischen Zähne gezogen. Jahrelang waren Versuche zur Stillegung von Atomanlagen am Veto einer atomfreundlichen Bundesregierung gescheitert; nun mussten sie wegen des Atomkonsens von einem atomkritischen Umweltminister zurückgestellt werden. So wurde weder das AKW Biblis trotz unstittiger Sicherheitsdefizite abgeschaltet, Stade trotz schwerer Materialdefizite weiterbetrieben, den Betreibern von Philippsburg, Neckarwestheim, Obrigheim und Isar trotz schwerer Verfehlungen die Betriebserlaubnis nicht entzogen. Das sind alles die verpassten Chancen eines sicherheitsorientierten Atomausstiegs.

Die bündnisgrüne Mehrheit, die diese Politik mitgetragen hat, könnte damit allerdings ihre Brücken in die Anti-Atombewegung bleibend zerstören. Diese Partei wird sich jetzt überlegen müssen, ob sie weiter in Nibelungentreue zu einem Atomkonsens steht, an dem nur die wirtschaftlichen Nutznießer beteiligt waren, Vertreter der Sicherheits- und Umweltbelange aber nicht. Oder ob sie sich auf die Binsenwahrheit zurückbesinnt, dass ein Atomausstieg nur im Gegensatz und Konflikt zu denen durchsetzbar ist, die von dieser Technik profitieren. Nur eine konsequente Konfliktstrategie mit langem Atem kann den Atomausstieg durchsetzbar machen. Andernfalls wird auch mit dem neuen Atomgesetz allein der wirtschaftliche Vorteil darüber entscheiden, ob Kraftwerke stillgelegt oder weiterbetrieben werden. Für die dazu nötige Änderung gesetzlich festgelegter Laufzeiten wird sich eine politische Mehrheit immer finden lassen. Um zukünftige Aufweichungen des Atomgesetzes zu verhindern, wäre das parlamentarische politische Gewicht der Bündnisgrünen viel zu schwach. Eine starke und kompromisslos kämpfende Anti-Atombewegung bleibt auch nach Trittins fragwürdigem Adventsgeschenk unersetzbar.

Ohne starken gesellschaftlichen Druck sind selbst die komfortablen Abschaltfristen des Atomgesetzes nicht durchsetzbar. Nicht Ideologie sondern der schnöde Mammon wird die Atomkonzerne alles versuchen lassen, abgeschriebene Stromkraftwerke so lange wie irgend möglich am Netz zu halten. Die jetzigen Regierungsgrünen müssen aber auch wissen, dass sie die Anti-Atombewegung nicht für die Durchsetzung des von ihr bekämpften Atomkonsenses mobilisieren können.

Und in der Tat hat der Umweltminister seit dem schwarzen 11. September gute Gründe, sich durchaus fachkompetent aus seinem verfehlten Schulterschluss mit der Atomwirtschaft zu verabschieden. Er kann und sollte endlich den Startschuss für eine Debatte zur Frage geben, ob die Gesellschaft bereit ist, das Restrisiko von Selbstmordattentaten zu tragen, die in Atomanlagen verheerende Auswirkungen haben können.

Am 27.09. erklärte Jürgen Trittin vor dem Bundestag: "Nach dem 11.09. wird nie wieder jemand den Absturz auf ein Atomkraftwerk als Restrisiko bezeichnen dürfen. Und dass dieses Restrisiko als - noch so ein Wort aus der Vorzeit - vernachlässigbar hinzunehmen sei, ist heute unverantwortlich." Wer so spricht, muss auch springen! Die "Reaktorsicherheitskommission" hat in verschlüsselten Worten zugeben müssen, dass eine Atomanlage nicht wirklich zu schützen ist. Der Umweltminister kann die Chance nutzen und die Debatte um eine deutliche Beschleunigung des Atomausstiegs über die jetzt gesetzlichen Fristen hinaus neu eröffnen.

Eine Debatte zum Restrisiko wird umgehend eine Neubewertung der geplanten 12 Zwischenlager an AKW-Standorten erzwingen. Hier werden ohne zeitliche Befristung neue Atomanlagen mit hochbrisanter Fracht eingerichtet, die mindestens bis zur Jahrhundertmitte Land und Leute gefährden. Sie sind nicht gegen gezielte Flugzeugabstürze oder gegen direkte Angriffe mit Panzerraketen ausgelegt. Völlig zu Recht wehrt sich die Bevölkerung an den vorgesehenen Standorten gegen diese Zumutung. Auch hier ist ein verantwortlich handelnder Umweltminister gefragt: Die Beachtung neu erkennbarer Terror-Risiken kann und sollte in die Planung eingehen - die bisher oberirdisch geplanten Hallen müssen als unterirdische und verbunkerte Atomlager errichtet werden. Dass der Atomwirtschaft mit verlängerten Planungsfristen ab Mitte 2005, dem seit heute gesetzlichen Stop der Wiederaufarbeitung aus Deutschland, ein neuer Entsorgungsnotstand droht, wird ein zusätzlicher Impuls für vorzeitige AKW-Schließungen sein.

Ohne eine lebendige anti-nukleare Bewegung aber kann es keine Konfliktstrategie geben.. Über 100 CASTOR-Transporte in den kommenden Jahren bieten weiterhin die große Chance, die politischen wie finanziellen Preise dieser Todes-Technologie hochzutreiben. Der Widerstand wird aber als ewige Wiederkehr des Gleichen versanden, wenn er sich nicht zumindest europaweit vernetzt. Im Zeitalter von Währungsunion und liberalisiertem Strommarkt wird ein national beschränkter Widerstand gegen die Atomkraft entweder überwunden, oder er droht abzusterben. Eine Vernetzung des antinuklearen Widerstands in Frankreich und Deutschland, Belgien und Spanien, England, Tschechien, der Ukraine ist im neuen Jahrhundert angesagt. Widerstandslager gegen CASTOR-Transporte nicht nur im Wendland, sondern vor den radioaktiven Giftfabriken Sellafield und La Hague sind da ein guter Anfang. Europaweite Demonstrationen und Zusammenkünfte in Cherbourg(Normandie), Liverpool (Irische See) und Straßburg könnten folgen.

Vom nationalen Atomkonsens waren die KritikerInnen ausgeschlossen. Mit bleibenden Widerstand gegen die Atomtransporten und der Planung der Zwischenlager, vor allem aber einem europaweiten antinuklearen Netzwerk und einer länderübergreifenden Debatte zum atomaren Restrisiko können sie den Konflikt neu beleben.


Hartwig Berger, Berlin
( ex-MdA)

11./12. 12.2001