Mannheimer Erklärung

initiiert von der Atompolitischen Opposition bei den Grünen (AtPO)

als Offener Brief

An
Jürgen Trittin, Bundes-Umweltminister
Fritz Kuhn und Renate Künast, Bundesvorsitzende
Rezzo Schlauch und Kerstin Müller, Vorsitzende der Bundestagsfraktion

Mannheim, den 05.11.2000

Liebe Freundinnen und Freunde,

aufgrund verschiedener aktueller Anlässe weisen wir auf die große Gefahr hin, dass die gegenwärtigen Möglichkeiten, zumindest einen deutlichen und schwer umkehrbaren Beginn des Atomausstiegs in unserem Lande durchzusetzen, nicht genutzt werden. Wir lassen dabei unsere zentrale Kontroverse mit Euch, nämlich die aus unserer Sicht falsche Entscheidung zum Atomkonsens, dahingestellt.

1.       Die Konzerne haben große Schwierigkeiten, die CASTOR-Transporte wieder aufzunehmen. Die Genehmigung des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), erteilt in den letzten Stunden des Sommers, erfolgte zum großen Teil, um die Vorgaben des Atomkonsenses zu erfüllen. Inzwischen zeigt sich in Philippsburg, dass die radioaktiven Grenzwerte an der Außenhaut der Behälter überschritten werden, hier muss also die Genehmigung zurückgezogen werden.

2.       Der Stop der Transporte nach La Hague bringt die Atomkonzerne in ein Dilemma, das sie durch jahrelange Schlampereien, die im CASTOR-Skandal 1998 gipfelten, selbst zu verantworten haben. Wenn die französische Regierung, wie zu hoffen, hart bleibt, muss die Abschaltung der betroffenen AKW Philippsburg, Stade, Neckarwestheim und (bereits geschehen) Biblis A verfügt werden. Die Abklingbecken sind voll, der nächste Brennelementewechsel kann daher nicht stattfinden. Provisorische Lagerung auf dem Gelände ist Sicherheitsdumping; sie darf daher von einer verantwortlich denkenden Atomaufsicht nicht genehmigt werden.

3.       Die Krise kann sich im Frühjahr 2001 zuspitzen. Es ist aus unserer Sicht keineswegs ausgemacht, dass die sog.” Glaskokillen” (verglaster hochradioaktiver Abfall) nach Gorleben transportiert werden können. Vielmehr Muss die Bundesregierung endlich die schweren Bedenken ernst nehmen, die zu Beginn dieses Jahres die belgische Regierung zum Stop der Rücktransporte aus La Hague veranlasst haben: Die Betreiberin von La Hague, die COGEMA, hat eine sicherheitstechnisch gravierende Unterlassung begangen: Sie hat bis heute keine Qualitätskontrolle des Inhalts der Glaskokillen durchgeführt oder durchführen lassen. Die spezifischen Gefahren und Risiken des rücktransportierten Atommülls sind also unbekannt. Der Bundes-Umweltminister muss daher auf Qualitätskontrollen vor einem Abtransport bestehen.

4.      Die kürzlich festgestellten Risse in einer Schweißnaht im Kühlsystem von Biblis A, im hochsensiblen Bereich der Zuleitung von der Notkühlung zur Hauptkühlung, erzwingen nicht nur die Abschaltung von Biblis A, sie haben Folgen für sämtliche AKW. Nach jahrelangen Verschleierungen wird jetzt behauptet, dass die bisherigen Messverfahren nicht ausreichten, um diesen gravierenden Defekt zu entdecken. Was für Biblis A gilt, muss dann für alle AKW zutreffen:. Wir unterstützen die Forderung des Bundesumweltministers nach einer umfassenden Revision aller AKW, die als Sicherheitsvorsorge zwingend notwendig ist und daher durchgeführt werden muss. Alle AKW müssen damit für längere Zeit vom Netz gehen. Das ist keineswegs “Schikanepolitik”. Wir weisen darauf hin, dass bei sämtlichen AKW Materialermüdung auftritt, verursacht durch die hohen Belastungen. Darüber hinaus gibt es bei einigen, v.a. den älteren Druckwasserreaktoren, auch noch Versprödungsprobleme, die die Integrität des Herzstückes der Anlage, des Reaktordruckbehälters, gefährden. Die Gefahr eines Bruchs mit katastrophalen Folgen nimmt also mit den Betriebsjahren zu  - auch das eine Argument gegen die überlangen Laufzeiten.

5.       Der Ausweg der Atomindustrie aus ihren gravierenden Transportschwierigkeiten - die Errichtung standortnaher Zwischenlager - erweist sich  immer deutlicher als unverantwortbar. Neben vielen Einzelkonflikten in den laufenden Genehmigungsverfahren möchten wir drei Punkte herausstellen:

a)      Die Größe der geplanten Lagerhallen wird bisher nicht auf die Laufzeiten bzw. Strommengen begrenzt, die der Atomkonsens vorsieht. Damit halten die Betreiber die Option offen, unter einer späteren Regierungskonstellation die Laufzeiten noch mehr auszuweiten, als es der Atomkonsens ohnehin vorsieht.

b)      Wie das Genehmigungsverfahren zum AKW Lingen gezeigt hat, ist bisher nicht geplant, die Lagerhallen gegen Flugzeugabstürze und terroristische Anschläge zu sichern. Wir halten das angesichts der Tatsache, dass diese Hallen jahrzehntelang im Lande stehen, für grob fahrlässiges Sicherheitsdumping. Auch ist es für uns unbegreiflich, dass die Bundesregierung bisher nicht ernsthaft versucht, reale Falltestes der CASTOR-Behälter als Sicherheitsüberprüfung festzusetzen.

c)      Immer mehr wird deutlich, dass die Entscheidung, überhaupt standortnahe Zwischenlager zuzulassen, ein Fehler ist. Die Bundesregierung würde damit zulassen, dass hochbrisante kerntechnische Anlagen bis zu 60 Jahren im Land stehen, zumeist in unmittelbarer Nähe hochbesiedelter Gebiete. Diese Anlagen werden noch existieren, wenn die dazugehörigen AKW längst abgeschaltet und abgebaut sind. “Erreicht” wird mit den Zwischenlagern eine Fristverlängerung für die laufenden AKW, die von ihren schwierigen Transportproblemen befreit werden. Eingehandelt werden mit den Lagern 14 zusätzliche hochradioaktive Zeitbomben in Deutschland.

6.       Zur Endlagerung haben in den letzten Monaten Fachleute wie auch der (keineswegs Grüne) Sachverständigenrat für Umweltfragen die Unlösbarkeit einer langfristigen Absicherung des Strahlenmülls von der Biosphäre unterstrichen. Einfach und direkt ausgedrückt: Es gibt keine Endlagerung, die unter dem Aspekt der Umweltvorsorge und der Sorge um die Zukunft des Lebens auf dieser Erde irgendwie zu verantworten ist. Die einzige verantwortungsethisch schlüssige Entscheidung ist, die weitere Produktion von Strahlenmüll umgehend zu unterlassen. Dass der Atomkonsens zulässt, die Menge an radioaktiven Abfällen, die im AKW-Betrieb erzeugt und hinterlassen wird, noch einmal zu verdoppeln, ist gänzlich unakzeptabel.

Die Handlungsansätze für eine entschiedene, allerdings auch konfliktbereite Atompolitik in Deutschland sind also gegenwärtig sehr groß. Wir fürchten jedoch, dass die Atomindustrie den geschlossenen Atomkonsens als Druckmittel nutzt, um die Bundesregierung und den Bundes-Umweltminister zur Zurückhaltung und zu entscheidenden Zugeständnissen in den atompolitischen Konflikten zu zwingen. Inhalt und Tonfall des Beschwerdebriefs der e.on an das Bundeskanzleramt, (SZ vom 2.11. 00) weisen bereits in diese Richtung.

Die Atomkonzerne – das ist absehbar – werden die Vereinbarung mit der Bundesregierung zum Anlass nehmen, um an jedem Konfliktpunkt Zurückhaltung und Konzessionsbereitschaft einzuklagen. Mit dem Druckmittel des Atomkonsenses werden sie eine atomfreundliche Politik des Grünen Umweltministers erzwingen wollen oder notfalls über den Bundeskanzler einklagen. Die Chancen, an den genannten schwachen Punkten der Atomwirtschaft einzuhaken, wären vertan. Der Atomkonsens selber ist zunächst nur ein Stück Papier, das die Konzerne jederzeit aufkündigen können. Die Änderung des Atomgesetzes („Ausstiegsgesetz“) bleibt, wenn sie überhaupt kommt, nicht nur für eine ernsthafte Ausstiegspolitik höchst unbefriedigend; darüberhinaus führt sie in absehbarer Zeit zu keinerlei Abbau der Atomwirtschaft in Deutschland.

In dieser Situation sind Grüne nicht in der Lage, eine glaubwürdige Politik des Atomausstiegs zu vertreten. Man wird den Grünen zurecht vorhalten, dass sie auf diesem Feld ihre Möglichkeiten nicht genutzt und für das “Entgegenkommen” an die Atomwirtschaft nichts Greifbares “eingehandelt” haben. Jedenfalls nichts, was nicht durch andere parlamentarische Mehrheiten leicht korrigierbar wäre.

Wir bitten alle Bündnisgrünen Parteigliederungen, über unsere Bestandsaufnahme zur Atompolitik ernsthaft zu diskutieren. Vor allem aber fordern wir alle Grünen auf, sich jetzt für eine konfliktbereite Atompolitik zu engagieren, um zumindest die sich gegenwärtig bietenden Möglichkeiten zu nutzen.

Diese genannten Punkten umzusetzen, ist ein Mindestbeitrag an Risikovorsorge, zu der die Bundesregierung nach dem grundgesetzlichen Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflichtet ist.

Noch ist es nicht zu spät

Mannheim, 05. November 2000

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UnterzeichnerInnen:

1.  Hartwig Berger (B90/Grüne, KV Charlottenburg, Mitglied des Abgeordnetenhauses Berlin, Sprecher des Energiepolitischen Ratschlags bei B90/Grüne)
2. Sylvia Kotting-Uhl (B90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
3. Ralf Henze (B90/Grüne, KV Mannheim, Mitglied des SprecherInnenrates BasisGrün)
4. Karl-W. Koch (B90/Grüne, KV Daun)
5. Heidi Tischmann (Landesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Niedersachsen
6. Felicitas Weck (B90/Grüne, KV Hannover-Stadt, Mitglied des SprecherInnenrates von Basisgrün)
7. Bernd Friboese (Berlin)
8. Traute Kirsch (Beverungen)
9. Armin Gabler (B'90/Die Grünen, KV Karlsruhe-Land, Kreisvorstand)
10. Inge Behner (B90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
11. Wolfram Scheffbuch (Kirchheim/Neckar)
12. Heinz Wittmer (Heidelberg)
13. Andreas Frank, Mannheim
14. Hiltrud-Breyer (B90/Grüne, MdEP)
15. Volker Hartenstein (parteilos, Mitglied des Bayerischen Landtages)
16. Ursula Schönberger (B90/Grüne, KV Braunschweig, ex-MdB)
17. Walter Jungbauer (Berlin)
18. Henrik Paulitz (Heidelberg)
19. Renate Backhaus (Lüneburg)
20. Marco Eilers (Mitglied im Landesvorstand Thüringen von Bündnis 90/ Die Grünen)
21. Sascha Bachmann (B90/Grüne, Märkisch-Oderland; Sprecher GAJB Brandenburg)
22. Tobias Balke (Berlin)
23. Krystyna Grendus (B90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
24. Jörg Rupp (B90/Grüne, KV Ettlingen, Vorstandsmitglied OV Ettlingen)
25. Rolf Bräuer (Kreistagsabgeordneter der Alternativen Liste - Bündnis für Umwelt und soziale Gerechtigkeit, Peine, Fraktionsvorsitzender der Fraktion Alternative Liste / Bündnis 90-Die Grünen, Peine, ehemaliger Sprecher des Fachbereiches Außenpolitik von Bündnis 90 / Die Grünen, ehemaliger Abgeordnetenmitarbeiter von Ursula Schönberger, MdB a.D.)
26. Michael Doege (Hannover)
27. Emanuel Kotzian (KV Nürnberg)
28. Dieter Kaufmann (KV Offenbach - Land)
29. Werner Graf (Sprecher Grüne Jugend Bundesverband)
30. Konstantin Knorr (B90/Grüne, KV-Hannover-Land, Landesvorstand Grüne Jugend Niedersachsen)
31. Peter Ruhwedel (B90/Grüne, KV Holzminden)
32. Andreas Knoblauch (B 90/Grüne, KV Salzgitter, Sprecher)
33. Christian Meyer (B 90/Grüne, KV Holzminden, Landesvorstandsmitglied Niedersachsen)
34. Tom Jürgens (B 90/Grüne, KV Hameln-Pyrmont, BI-gegen das Zwischenlager am AKW Grohnde)
35. Rolf Gramm (B 90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
36. Armin Boßerhoff (B 90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
37. Frank Bertoldi (B 90/Grüne, KV Bonn)
38. Frank Miething (B 90/Grüne , KV Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf)
39. Christian Goetjes (B90/Grüne, Sprecher KV Oberhavel, Sprecher GAJB Brandenburg)
40. Michael Musil (B90/Grüne, KV Westerwald)
41. Annelie Scharfenstein (KV Westerwald)
42. Vorstand des Kreisverbandes Kaiserslautern-Stadt
43. Peter Gramm, (KV Ansbach, Sprecher)
44. Peter Kühn(B 90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau)
45. Diethardt Stamm (B 90/Grüne, KV Wetterau, Fraktionssprecher Zweckverband Oberhessische Versorgungsbetriebe)
46. Markus Ganserer (B 90/Grüne, KV Regen)
47. Ralf Krispin (Kempen)
48. Axel Gebauer (B90/Grüne Berlin, Bereich Hochschule)
49. Bernd Bennecke (KV Lübeck)
50. Markus Sippl (KV München Ost, Sprecher Grüne Jugend München)
51. Thomas Geyer (Konstanzer Initiative gegen Atomanlagen (KIGA)
52. Phil Hill (KV Prenzlauer Berg)
53. Pia Meyer (B90/Grüne, KV Trier-Saarburg, Sprecherin GJB Rheinland-Pfalz)
54. Uwe Kekeritz (B90/Grüne, KV-Sprecher Neustadt, Kreisrat, Sprecher BasisGrün Bayern)
55. Helmut Herzog (B90/Grüne, Sprecher KV-ERH, Gemeinderat Heroldsberg)
56. Karin Trepke (B90/Grüne, Sprecherin des OV Bad Kreuznach, RLP)
57. Johannes Lichdi (B90/Grüne, KV Dresden)
58. Michael Braedt (PDS, Hannover)
59. Bärbel Wilgermein (Grüne-Liste-Wendland, Fraktionssprecherin im Rat der Samtgemeinde Lüchow )
60. Jürgen Tüpker - Alternative Liste Peine
61. Simone Heitz (B90/Grüne, KV Neckar-Odenwald, BI "Obrigheim abschalten")
62. Andreas Schüßler, (Bielefeld , ausgetreten nach dem Bielefelder Parteitag)
63. Andreas Atzl (B90/Die Grünen, KV Neuwied, Länderausschuß Grüne Jugend)
64. Helmut Horst (B90/Grüne, KV Oberhavel)
65. Dr.med. Wolfgang Fischer (München)
66. Thomas Wardemann (Sprecher Gesundheit und Soziales B90/Die Grünen Brandenburg, Sprecher KV Barnim)
67. Jakob Köth (B90/Grüne, OV Bad Kreuznach, Gesamtbetriebsratsvorsitzender)
68. Sebastian Heiser (Grüne Jugend Berlin)
69. Regina Hupf (Unabhängige FrauenBewegung)
70. Annette Gille (B90/Grüne, KV Braunschweig)
71. Rojhalat Ibrahim (Aichach-Friedberg)
72. Hanno Böck (Aktionsbündnis Castorwiderstand Neckarwestheim)
73. Egbert Bialk (B90/Grüne, Sprecher KV Westerwald)
74. Jan-Christoph Neuhann (B90/Grüne, KV Remscheid)
75. Gerd Jünger (B90/Grüne, KV Odenwald-Kraichgau, Landtagskandidat Wahlkreis Wiesloch)
76. Wilhelm Achelpöhler (B90/Grüne, Vorstandssprecher KV Münster)
77. Klaus-Peter Schleisiek (Aachen)
78. Thilde Kuntz (B90/Grüne, Wörth)
79. Brigitte Apel (AL Spandau, Berlin)
80. Franz Josef Bayer, Spandau
81. Ewald Feige (AL Spandau, Berlin)
82. Angelika Höhne (AL Spandau, Berlin)
83. Ritva Harju (AL Spandau, Berlin)
84. Ernst John (AL Spandau, Berlin)
85. Frank Koslowski (AL Spandau, Berlin)
86. Marianne Warncke (AL Spandau, Berlin)
87. Jan Peter Warnke (AL Spandau, Berlin)
88. Helmuth Ohlhoff, Endingen, Journalist
89. Katja Hensel, Berlin
90. Horst R. Brumm (B90/Grüne, stellv. Kreissprecher Oberhavel, Leiter des Buddhistischen Instituts in Stechlin Menz)
91. Conny Folger, Sprecherin BasisGrün Bayern
92. Christel Tecker (B90/Grüne, Vorstandsmitglied KV Cuxhaven)
93. Nils Lessing, KV Mettmann
94. Carsten Milde (B90/GrüneSchatzmeister KV Hannover-Land)
95. Albert Schindlbeck (Fraktionssprecher im Stadtrat Freising)
96. Frank Wildenhayn (B90/Grüne, KV Märkisch-Oderland)
97. Hannelie Fischer (ehemals Mitglied Bü90/Grüne Potsdam-Mittelmark)
98. Horst Schiermeyer (B90/Grüne, Sprecher des KV Löbau-Zittau)
99. Karin Luke (B90/Grüne, Berlin)
100. Günter Bock (B90/Grüne) KV Regensburg, LAK Verkehr LV Bayern

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