Dr. med. Walter Sieber
Arzt für Arbeitsmedizin
Freiherr vom Steinweg 21
D-74821 Mosbach
Tel. 06261/670 470
Offener Brief
01.06.2001

 

An den
Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz
Herrn Wolfram König
Postfach 10 01 49
38201 Salzgitter

Betr.: Neufassung der Strahlenschutz-Verordnung

Sehr geehrter Herr Präsident König,
leider musste ich die Erfahrung machen, dass gravierende Einwände gegen einige Regelungen in der Neufassung der Strahlenschutzverordnung (NF StrSchVO) von einigen Mitarbeitern Ihres Hauses in keiner Weise zur Kenntnis genommen werden und wissenschaftlich begründete Einwände ohne jede Reaktion bleiben. Daher wähle ich nun diesen Weg, um ein gewisses Maß an Öffentlichkeit herzustellen. Ich werde im Folgenden nur jene Punkte der NF StrSchVO zur Sprache bringen, die mir - schon von Berufs wegen - geläufig sind. Auf zahlreiche gravierende Einwände wurden Sie bereits von anderer Seite hingewiesen. Insgesamt stellt die NF der StrSchVO aus dem Jahr 2001 nicht das dar, was sich die Bevölkerung von einer rot-grünen Koalition erwartet hatte: Eine Verbesserung des Strahlenschutzes nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik.

Bei der Erörterung im Mai 2000 in Bonn wurde deutlich, dass der Entwurf der NF von Mitarbeitern Der Bundesanstalt für Strahlenschutz (BfS) ausgearbeitet worden war. Natürlich kann niemand von diesen Mitarbeitern Kompetenz in medizinischen oder arbeitswissenschaftlichen Fragen erwarten. Aber zu erwarten war und ist, dass zur Klärung dieser Fragen kompetente Fachleute hinzugezogen werden. Meine Ansicht will ich durch zwei Beispiele erläutern.

1. In § 3 (1)1 bzw. § 3 (1) 2 werden völlig neuartige Definitionen der Begriffe "Arbeiten", "Tätigkeiten" und "Handlungen" eingeführt, die nur als sprachlicher und definitorischer Unsinn bezeichnet werden können: "Wir lesen in § 3 (1)2 zu Arbeiten: "Handlungen, die, ohne Tätigkeit zu sein, bei natürlich vorkommender Radioaktivität die Strahlenexposition oder Kontamination erhöhen können.....e) durch Berufsausübung der fliegenden Personals." Was ist die Botschaft? Das fliegende Personal ist also bei seiner Berufsausübung untätig, aber es handelt. Abgesehen von dem unglaublichen Missbrauch der deutschen Sprache ist § 3 (1) völlig widersinnig. Ich habe Herrn Prof. Dr. Landau, Direktor des Instituts für Arbeitswissenschaft der TU Darmstadt, um seine Ansicht zu den Neudefinitionen in § 3(1) der

NF gebeten. Er schrieb (auszugsweise):"...Die Art und Weise wie die Begriffe Tätigkeiten bzw.
Arbeiten hier verwendet werden, deckt sich überhaupt nicht mit den 'gesicherten
arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen'. Die gesamte 'Scientific - Community', die sich mit dem Schutz des Menschen bei der Arbeit befasst.- also nicht nur die Arbeitswissenschaft -
benutzen völlig andere Definitionen." Damit ist wohl alles gesagt. Es ist dringend geboten, dass sich der Gesetzgeber von kompetenten Fachleuten Rat einholt, bevor er sich durch Formulierungen in einer Verordnung öffentlich blamiert.

2. Bei der erwähnten Erörterung in Bonn kritisierte ich die sog. "Referenzperson". Die Referenzperson wird in § 47 (2) NF erwähnt und im Anhang VII Tab. 1 und 2 näher beschrieben. Offenkundig waren sich die Verfasser der NF der StrSchVO nicht der Tatsache bewusst, dass mit der "Referenzperson" ein medizinisches Grundproblem "gelöst" wird, nämlich die Definition einer "Normalperson". Meine Kritik stützte sich auf eigene wissenschaftliche Ergebnisse aus meiner Zeit beim MPI für Arbeitsphysiologie in Dortmund und die einschlägige wissenschaftliche Literatur; sie bezog sich vor allem auf die in Tab. 2, Anh. VII wiedergegebenen Werte. Jedem Laien leuchtet ein, dass es falsch ist, die Atemrate eines 17 jährigen Menschen undefinierten Geschlechts als Normwert für alle anderen Altersklassen vorzugeben. In des Diskussion bot ich einem Mitarbeiter der BfS an, auf Anforderung entsprechende Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Diese Anforderung geschah mit Schreiben vom 09. 10. 2000, also nach 5 Monaten. Um zur Klärung der Problematik beizutragen, übermittelte ich dem Mitarbeiter des BfS eine Literaturliste sowie die Anschrift namhafter Wissenschaftler (Prof. Dr. Landau, s.o.; Prof. Dr. W. Hollmann, ehem. Direktor des Instituts für Kreislaufforschung und Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule Köln), die sich bereit erklärt hatten, zur Klärung der atemphysiologischen Fragen beizutragen. Außerdem fügte ich die statistische Auswertung eigener Messdaten bei, die meine Kritik untermauerten. Gleichwohl enthält die letzte Fassung der StrSchVO die gleichen Angaben zur Atemrate wie die frühere. Ob die Mitarbeiter des BfS wirklich über die Kompetenz auf dem Gebiet der Atemphysiologie verfügen, um die geschilderten Probleme zu lösen, entzieht sich meiner Kenntnis, erscheint mir aber nach den Erfahrungen bei der Erörterung im Mai 2000 zweifelhaft.

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass zukünftig gemäß NF der StrSchVO auch schwangere Frauen und stillende Mütter Zugang zu Kontrollbereichen in Anlagen mit radioaktivem Material haben sollen. Hier wird wirtschaftlichen Interessen eindeutig Vorrang vor dem Schutz des werdenden Lebens und unter Verletzung der Grundrechte nach Art. 2 gegeben. Ich weiß, dass mittlerweile die NF der StrSchVO die Zustimmung des Kabinetts gefunden hat. Sollten auch die weiblichen Mitglieder ihre Zustimmung gegeben haben, wäre dies aus meiner Sicht beschämend.

Als Teilnehmer an mehreren atomrechtlichen Erörterungen weiß ich deren Bedeutung und Funktion richtig einzuschätzen: Sie dienen letztlich lediglich dem Zweck, einer bereits vorweggenommenen Entscheidung ein pseudodemokratisches Mäntelchen umzuhängen, um den
zuständigen Behörden ein Alibi zu verschaffen. In Anbetracht der Tatsache, dass seitens der Verwaltungsgerichte eine inhaltliche Überprüfung der Entscheidung nahezu ausgeschlossen ist
- die juristische Überprüfung erstreckt sich nur auf formaljuristische Fragen - können die Behörden nicht nur als Exekutive, sondern auch als Judikative handeln. Diese Zusammenhänge wurden in eklatanter Weise bei der Erörterung der NF des StrSchVO offenkundig und den anschließenden Diskussionen deutlich. Selbst bei jenen Formulierungen, bei denen die NF in augenfälligem Widerspruch zu wissenschaftliche gesicherten Erkenntnissen stand und steht, halten die Mitarbeiter des BfS an ihrer vorgefassten Meinung fest, wie sich beispielhaft aus den obigen Ausführungen ergibt.

Wie dargestellt enthält die NF der StrSchVO - zumindest - für die Definitionen "Arbeiten", "Tätigkeiten" und "Referenzperson" wissenschaftlich völlig unhaltbare Definitionen. Da ich nicht unterstellen möchte, diese Fehldefinitionen seien vorsätzlich in die NF der StrSchVO aufgenommen worden, gehe ich davon aus, dass die zuständigen Mitarbeiter des BfS für die exakte Definition der genannten Begriffe nicht kompetent waren. Ein höheres Maß an kritischer Selbsteinschätzung hätte sich empfohlen. Den Mitgliedern des Bundeskabinetts dürften diese Zusammenhänge nicht bekannt gewesen sein. Andernfalls hätten sie sich diesen Fehldefinitionen bedingungslos angeschlossen.

Die vorliegende NF der StrSchVO bietet reichlich Stoff für juristische Auseinandersetzungen. Aber was noch wichtiger ist: Sie beinhaltet eine vielfältige Verletzung unserer Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Hoffnung, der weltweite genetische Feldversuch durch die
Nutzung der Atomenergie würde endlich beendet, erweist sich einmal mehr als trügerisch.


Mit freundlichen Grüßen

Walter Sieber