Links zu Fotos aus dem Wendland:
http://www.freemedia.info/FB-castor02.htm
http://de.indymedia.org:8081/2002/11/34443.shtml
http://de.indymedia.org/2002/11/34295.shtml
http://de.indymedia.org:8081/2002/11/34397.shtml

14.11.2002

Hartwig Berger (Berlin)
hartwig.berger@t-online.de

Willst du Bäume retten, so verspeise Castoren (Biber)
Französisches Sprichwort

Wie der CASTOR an Freiheitsrechten sägt -
Eine Betrachtung aus aktuellem Anlass

Auch dieses Jahr war der Konflikt um Atomtransporte nach Gorleben ein politisches Lehrstück, das besonders an einer Partei mit atomkritischen Traditionen nicht vorbeirauschen sollte. Einen demokratiepolitisch wichtigen Punkt will ich hier erwähnen. Vorweg aber: es war toll, dass sich dieses Mal etwa 40 Mitgliedern der Grünen Jugend aktiv am Widerstand im Wendland beteiligt haben, trotz November, Risiken und polizeilicher Repression. Das war einfach großartig! Man konnte heuer nicht sagen, dass Grüne sich aus den atompolitischen Konflikten vor Ort raushalten, zumal, wie das Beispiel unten zeigt, die Grünen Igel auch die dunkelsten Seiten des CASTOR-Konflikts durchstehen mussten. Dazu jetzt:

Nach Angaben der BI Lüchow-Dannenberg wurden beim diesjährigen Transport fast 1.000 Menschen in mehrstündige polizeiliche Gefangenschaft genommen, ungefähr 200 waren ungefähr 20 Stunden inhaftiert. Rein von den Zahlen sieht das nicht schlimmer aus als beim letzten Transport. Schlimmer ist aber, dass durch Wiederholung dieser Repressionsmaßnahme die Beschneidung der Freiheits- und Demonstrationsrechte zur Routine - und offenbar von der Politik hingenommen wird. Sie wird zu einem Gewohnheitsrecht, das wichtige Grundrechte in der Demokratie unterläuft, wenn nicht bricht. Gegen die atomkritischen DemonstrantInnen wird immer stärker eine Vorbeugehaft ausgeübt, mit dem erkennbaren Ziel, sie durch vollständigen vorübergehenden Freiheitsentzug an der Ausübung ihres Demonstrationsrechts zu hindern. Dadurch hält sich die Staatsgewalt möglichen Ärger mit strikt gewaltfreien Aktionen vom Hals, in der Güterabwägung zwischen bürgerlichen Freiheitsrechten und dem Anspruch auf freie Fahrt für umstrittene Atomtransporte entscheidet sie für "freie Fahrt" und klar gegen Freiheitsrechte.

Den offenen Abbau demokratischer Freiheitsrechte erlebt das Wendland bei jedem neuen CASTOR-Transport vielfältig und über mehrere Wochen. Zur Veranschaulichung schildere ich das Geschick von etwa 150 DemonstrantInnen am 13./14. 11.:

Etwa 200 CASTOR-GegnerInnen erreichten am 13.11. gegen 13 Uhr die Bahnlinie bei Hitzacker. Sie setzten sich neben den Schienen nieder, die durch eine starke Polizeikette gesichert waren. Knapp eine halbe Stunde später wurden sie vom Bundesgrenzschutz eingekreist und in einen Kessel auf freiem Feld abgeführt. Wer nicht freiwillig mitkam, wurde schmerzhaft misshandelt. Eine Aufforderung, den Ort zu verlassen, gab es vorher nicht. Nachdem der CASTOR-Transport den Ort des Geschehens gegen 16.20 passiert hatte, wurden die Eingekesselten schrittweise in bereitstehende Fahrzeuge gebracht. In ihnen mussten sie vor Ort und später auf dem Gelände der Polizeikasernen bei Dannenberg warten stundenlang warten. Verpflegung gab es die gesamte Zeit über nicht und nur vereinzelt Wasser. Die letzten Gefangenen wurden gegen 23 Uhr aus den (unbeheizten) Fahrzeugen geholt. Ihnen wurden bis zu den Schnürsenkeln sämtliche Gegenstände abgenommen. Für die Nacht gab es Isomatte und Decke. 110 Männer wurden in einer leeren und kaum belüfteten Halle unterbracht, die früher als Garage gedient haben soll. Die Frauen hatten das fragwürdige "Privileg", teilweise in Einzelzellen zu kommen.

Bis zum Morgen war nur eine Handvoll Inhaftierter der Untersuchungsrichterin vorgeführt worden. Die Richterin hatte nach eigener Auskunft gegenüber einem Betroffenen seit 18 Uhr seine Akte angefordert und diese bis 2 Uhr nachts nicht erhalten. Erst um 6 Uhr morgens lag die Akte vor und konnte die Freilassung im Einzelfall verfügt werden.

Nach Angaben der Polizei soll der CASTOR-Transport am 14.11. kurz nach 7 Uhr das Zwischenlager erreicht haben. Um 7.30 kündigte die Polizei den Gefangenen in den Kasernen bei Dannenberg an, dass sie nun mit den Freilassungen beginnen würden, die kurz nach 9 Uhr zu Ende waren.

Es ist politisch alarmierend, dass solche Ereignisse längst kein Sonderfall sondern Normalfall im Umgang mit Anti-Atomprotesten im Wendland geworden sind. Sicher trägt in erster Linie der Innenminister von Niedersachsen die politische Verantwortung für die Einsätze. Aber immerhin ist die SPD auch Regierungspartei in Berlin. Vor allem wird man der rot/grünen Bundesregierung eine zumindest indirekte politische Verantwortung zurechnen müssen, wenn die hier stattfindende Routinisierung des Abbaus demokratischer Freiheitsrechte - viele andere Beispiele wären zu nennen - hingenommen wird. Es kann auch Bundestagsabgeordneten, als Mitgliedern der gesetzgebenden Instanz im Lande, nicht gleichgültig sein, wenn Demonstrations- und Freiheitsrechte in einer Weise unterlaufen werden, wie wir das im Wendland (mindestens) einmal jährlich erleben.

Meine Frage: Was unternimmt die Rot-Grüne Koalition, was unternimmt Grün in der Regierungsbeteiligung, um diese gefährliche innenpolitische Entwicklung im Umgang mit Anti-Atomprotesten zu stoppen?

Berlin, 15.11. 2002