29.5.2001

Atomwirtschaft rechnet mit neuen Meilern
Von Olaf Preuß, Hamburg

Die deutschen Stromversorger und die Atomwirtschaft rechnen damit, in absehbarer Zeit in Europa und in
Deutschland wieder neue Atomkraftwerke bauen zu können.

"Der politisch gewünschte Ausstieg aus der Kernenergie steht im Widerspruch zu den Klimaschutzzielen der Bundesregierung", sagte am Montag in Frankfurt Günter Marquis, Präsident des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft (VDEW), bei der Vorstellung des VDEW-Jahresberichtes 2000. "Nationale und europäische Alleingänge behindern eine nationale Energiepolitik", sagte Marquis, im Hauptberuf Vorstandsmitglied der Lech-Elektrizitätswerke in Augsburg.

Die Zukunft der Atomkraft dürfte auch ein zentrales Thema beim diesjährigen VDEW-Kongress sein, der am Dienstag in Hamburg eröffnet wird. Es ist die größte energiewirtschaftliche Tagung in Deutschland.

Zwei Umstände beflügeln den neuen Optimismus der Branche: In Deutschland gibt es bislang keine
energiepolitische Strategie, wie Atomreaktoren, die in den kommenden Jahren schrittweise vom Netz gehen, ersetzt werden sollen, ohne dabei den deutschen Ausstoß an Treibhausgasen zu erhöhen. Schon jetzt ist klar, dass die deutschen Ziele zum Klimaschutz in den kommenden Jahren kaum eingehalten werden können. Die neue US-Regierung unter Präsident George Bush wiederum, die eine Ratifizierung des
Klimaschutz-Abkommens von Kioto ablehnt, setzt für die Energieversorgung der Vereinigten Staaten auch auf den Neubau von Atomreaktoren.

Hoffen auf Neubewertung

Die Vereinbarung über den Atomausstieg zwischen der Bundesregierung und den Atomkraftwerks-Betreibern diente der Branche lediglich dazu, den Bestand der 19 laufenden Reaktoren in Deutschland zu sichern. "Nach meiner Auffassung hat die Kernenergie auch in Deutschland trotz dieser Vereinbarung noch eine Zukunft", sagte Gert Maichel, Präsident des Deutschen Atomforums, kürzlich in Dresden. "Über die Grundsatzfrage der friedlichen Nutzung der Kernenergie bestehen zwischen der Bundesregierung und der Industrie weiterhin unterschiedliche Auffassungen", sagte RWE-Vorstandsmitglied Maichel. In Deutschland
werde es "in wenigen Jahren zu einer Neubewertung der Kernenergie mit dem Ergebnis einer weiteren Nutzung kommen".

Von der Renaissance der Atomkraft in den USA profitiert jetzt bereits der weltgrößte Reaktorbauer und Nukleardienstleister Framatome ANP, der zu zwei Dritteln der französischen Framatome gehört und zu einem Drittel dem Siemens-Konzern. Noch unter Präsident Bill Clinton begannen in den USA die
ersten Betreiber von Atomkraftwerken, eine von 40 auf 60 Jahre verlängerte Laufzeit zu beantragen. "Wir rechnen damit, dass für rund drei Viertel der 103 Atomreaktoren in den USA eine Verlängerung der Betriebsdauer von 40 auf 60 Jahre genehmigt werden wird", sagt Framatome-Sprecher Wolfgang Breyer.
Framatome werde vor allem bei der Modernisierung von Kraftwerken dabei sein, etwa bei der Einrichtung neuer Leitstände. Der Konzern sei zudem "lebhaft daran interessiert", beim Neubau von Reaktoren ins Geschäft zu kommen.

Noch wurde in den USA kein neues Atomkraftwerk in Auftrag gegeben, auch in Europa gibt es derzeit keine Neubaupläne. Framatome bietet allerdings den Druckwasserreaktor EPR und den Siedewasserreaktor SWR 1000 an. Beide Anlagen sind laut Breyer Weiterentwicklungen bestehender Reihen und könnten ohne Prototyp gebaut werden.

Erstmals könnte einer dieser Reaktortypen in Finnland zum Einsatz kommen. Die finnische Regierung prüft derzeit einen Antrag zum Neubau eines neuen Atomkraftwerkes.


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