BMU-Pressedienst Nr. 210/01

Berlin, 24. Oktober 2001

Juergen Trittin: Vorkommnisse in Philippsburg muessen vollstaendig und lueckenlos aufgeklaert werden

Zu den Vorkommnissen im baden-wuerttembergischen Atomkraftwerk Philippsburg erklaert Bundesumweltminister Juergen Trittin:

Das Bundesumweltministerium ist am spaeten Montagabend, dem 22.10. 2001, von einem weiteren gravierenden Vorkommnis im Atomkraftwerk Philippsburg 2 unterrichtet worden. Dieses Ereignis ist vom Betreiber an die Landesbehoerde als Sofortmeldung nach der atomrechtlichen Meldeverordnung und nach Stufe 2 der internationalen Stoerfallskala (INES) gemeldet worden. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, der bereits im August stattfand.

Auf Betreiben des Bundesumweltministeriums ist am 8.10. 2001 die Anlage herabgefahren worden, weil in drei von vier Flutbehaelterpaaren fuer das Not- und Nachkuehlsystem der Borsaeuregehalt zu gering war. Bei der behoerdlich angeordneten Analyse dieser Vorgaenge wurde nun festgestellt, dass nicht nur Defizite bei der Borierung bestanden, sondern auch bei allen vier Flutbehaeltern der Fuellstand zum Teil deutlich unter dem im Betriebshandbuch vorgegebenen Wert von 12,6 m lag; in einem Falle sogar um 3,3 m niedriger.

Die besondere Schwere des Ereignisses liegt darin, dass

-- bei einem Stoerfall moeglicherweise zu wenig Wasser zur Nachkuehlung des Reaktorkerns und damit zur Verhinderung seines Versagens zur Verfuegung gestanden haette,

-- dieses Risiko vom Betreiber bewusst und in Abweichung von den gueltigen Vorschriften der Genehmigung eingegangen wurde.

Die Ueberpruefungen haben ergeben, dass dieses Risiko nicht nur einmal, sondern in unverantwortlicher Weise vom Betreiber seit 17 Jahren -- mit einer Ausnahme -- beim Wiederanfahren von Block 2 nach Revisionen in Kauf genommen wurde.

Diese Vorgaenge offenbaren ein nicht zu verantwortendes Mass an fehlender Sicherheitskultur. Durch die Ereignisse in Philippsburg steht nicht nur das Sicherheitsmanagement der Betreiber auf dem Pruefstand, in der Diskussion sind zugleich die Effektivitaet der Pruefungen durch Gutachter und zustaendiger Landesaufsichtsbehoerde.

Wie berechtigt die auf mein Betreiben veranlasste Abschaltung der Anlage in Philippsburg ist, wird durch die juengsten Vorgaenge nachdruecklich unterstrichen. Diese Vorgaenge und ihre dringend notwendige vollstaendige Aufklaerung machen es unmoeglich, zum jetzigen Zeitpunkt einen Termin fuer das Wiederanfahren von Block 2 anzugeben. Das Atomkraftwerk darf so lange nicht wieder angefahren werden, solange die Zweifel an der Zuverlaessigkeit des Betriebs nicht ausgeraeumt sind.

Es liegt in der Verantwortung des Betreibers, durch eine klare und nachvollziehbare Analyse der Vorgaenge volle Transparenz zu schaffen und die Ursachen aufzudecken, auf der Basis dieser Analyse geeignete personelle und organisatorische Aenderungen vorzuschlagen und so durch praktisches Handeln die Zweifel an seiner Zuverlaessigkeit auszuraeumen.

Soweit dies nicht geschieht, stehen der Atomaufsicht ausreichende Handlungsinstrumente bis hin zum Widerruf der Genehmigung zur Verfuegung.

Das Bundesumweltministerium hat eine Reihe von Massnahmen ergriffen bzw. geplant, damit die Vorkommnisse in Philippsburg vollstaendig aufgeklaert werden:

Auf Verlangen der Bundesaufsicht hat das Umweltministerium von Baden-Wuerttemberg einen ersten Bericht vorgelegt. Die Landesbehoerde hat Massnahmen auf verschiedenen Ebenen eingeleitet, unter anderem zur Begutachtung des Ereignisses. Das Umweltministerium Baden-Wuerttemberg hat zugesagt, von sich aus das Bundesumweltministerium ueber neue Erkenntnisse zu unterrichten.

Darueber hinaus habe ich Baden-Wuerttemberg aufgefordert, bis heute Abend darzulegen, ob es einen vergleichbaren Umgang mit den Vorschriften fuer einen sicheren Betrieb auch bei Revisionen im Block 1 des Atomkraftwerks Philippsburg gegeben hat. Beide Anlagen haben einen gemeinsamen Kraftwerksdirektor und werden vom gleichen Betreiber betrieben.

Da dieser Fall ueber Philippsburg und Baden-Wuerttemberg hinaus Bedeutung hat, habe ich veranlasst, dass die Reaktorsicherheitskommission(RSK) unverzueglich unterrichtet wurde und dass das Ereignis am 7.11.2001 zunaechst im RSK-Ausschuss Reaktorbetrieb beraten wird. Ich habe zudem die Atomaufsichtsbehoerden der Laender aufgefordert, das Qualitaetsmanagement, insbesondere hinsichtlich der Arbeit der Sachverstaendigen und des Zusammenspiels von Sachverstaendigen und Behoerde, zu ueberpruefen. Der Vorgang im ebenfalls vom Netz genommenen Atomkraftwerk Isar 1 wirft erhebliche Fragen hinsichtlich der Arbeit der Gutachterorganisationen auf.

Das Bundesumweltministerium hat zudem Berichte der zustaendigen Landesatomaufsichtsbehoerden angefordert. Die Laender sollen pruefen, ob vergleichbare Faelle wie in Philippsburg insbesondere beim An- und Abfahren von Anlagen in ihrem Zustaendigkeitsbereich aufgetreten sind.

Der sicherheitsbedingte Stillstand von vier Atomkraftwerken der letzten Wochen - Philippsburg 1 und 2, Isar 1 und Biblis - waren von technischen Problemen, aber vor allem von einem mangelhaften Umgang von Menschen mit der Technik gepraegt. Das heisst fuer uns: Es gibt zu einem strikt sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes keine Alternative. Der sicherheitsorientierte Vollzug ist nur durch eine stringente Aufsicht des Bundes zu gewaehrleisten.